Anisotrope Materialmodelle kalibrieren mit Unterstützung von KI

Erstellt von Dr. Marcus Stojek | | Technischer Artikel

Bei der Kalibrierung von anisotropen Materialmodellen sind bisher Füll- und Struktursimulationen erforderlich, um die Modellparameter zu bestimmen. Der Vorgang ist anspruchsvoll und zeitaufwändig. Kann durch den Einsatz von KI-Modelle auf die Verwendung von externen FE-Solvern verzichtet und der Kalibriervorgang weitgehen automatisiert werden? Ein Forschungsprojekt zu dieser Fragestellung hat gerade begonnen.

Die Verwendung von anisotropen Materialmodellen in der Struktursimulation ist heute Stand der Technik, wenn es um faserverstärkte Thermoplaste geht. Die Fehler bezüglich Steifigkeit und Festigkeit sind zu groß, wenn das richtungsabhängige Materialverhalten aufgrund der Faserorientierungen nicht berücksichtigt wird. Ein Problem bei der Verwendung solcher Materialmodelle ist die Kalibrierung der Modellparameter. Im Gegensatz zu Zugversuchen an isotropen und homogenen Materialien liefert der Zugversuch an einer faserverstärkten Probe nicht direkt das Materialverhalten, sondern nur die Steifigkeit eines inhomogenen Verbundwerkstoffs mit Schichten unterschiedlich orientierter Fasern (siehe Bild 1). Die Orientierung selbst in den geprüften Probekörpern ist unbekannt.

Beim Spritzgießen des Probekörpers bildet sich ein grundsätzlich dreischichtiger Aufbau im Probekörper aus. Die äußeren Schichten, die in Fließrichtung relativ hoch orientiert sind, umschließen eine mittlere Schicht mit einer eher geringen Orientierung. Die Eigenschaften der einzelnen Schichten hängen letztlich vom Geschwindigkeitsprofil der Schmelze ab. Einflussgrößen sind unter anderem die Viskosität der Schmelze, die Wandstärke und die Einspritzgeschwindigkeit. Die Zugversuche an einer solchen Sandwich-Probe ergeben das integrale Steifigkeitsverhalten aller drei Schichten.

Daher sind an zwei Stellen des Kalibrierungsprozesses FEM-Simulationen für Materialmodelle erforderlich. Zunächst muss die Faserorientierung im Probekörper vorhergesagt werden. Falls sie nicht durch die Auswertung von CT-Scans gemessen wird, muss dies durch eine entsprechende Füllsimulation der Probe oder der verwendeten Prüfplatte geschehen. Weiterhin müssen die lokalen Orientierungen in ein mechanisches FE-Modell einfließen und der Zugversuch selbst muss in der Simulation nachgestellt werden, um zu überprüfen, ob das angenommene Materialverhalten mit den Messwerten aus dem Versuch übereinstimmt. Letztlich kann die korrekte Anpassung der verwendeten Modellparameter nur iterativ durch den Vergleich von Versuchs- und Simulationsdaten erfolgen (Bild 2).

Obwohl sie sehr effektiv sind, können Finite-Elemente-Solver rechenintensiv sein und erfordern einen erheblichen Aufwand an menschlichem Einsatz und Know-how bei der Einrichtung des Modells und der Abstimmung der Parameter. Außerdem müssen diese Solver in erster Linie dem Materialexperten zur Verfügung stehen, dessen Aufgabe es ist, gültige Materialmodelle zu erstellen. Dieser komplexe und teure Arbeitsablauf ist oft ein Grund für den zögerlichen Einsatz solcher Modelle. Besonders in der termingetriebenen Welt der Produktentwicklung.

Mit den rasanten Fortschritten in der Künstlichen Intelligenz (KI) ist jedoch ein spannender Paradigmenwechsel im Gange. KI-Modelle werden zu einem vielversprechenden Ersatz für traditionelle Finite-Elemente-Solver und verändern die Art und Weise, wie wir rheologische und strukturelle Simulationen angehen.

Das Erscheinen der KI auf der Bildfläche hat zu revolutionären Veränderungen in den Simulationsmethoden geführt. Vor allem für eine klar abgegrenzte Aufgabe, wie die Füllung einer einfachen Platte oder einer Zugprobe oder die mechanische Antwort einer solchen Probe unter einachsiger Belastung, sind die Möglichkeiten einer sinnvollen Anwendung von KI-Modellen durchaus gegeben.

Aus diesem Grund beteiligt sich PART Engineering seit Mitte dieses Jahres an einem öffentlich geförderten Forschungsprojekt, das die Entwicklung von zwei entsprechenden KI-Modellen zum Ziel hat. Das eine Modell soll dabei die Faserorientierungen für verschiedenen Standard- Probekörpergeometrien vorhersagen, während das andere das Steifigkeitsverhalten einer Zugprobe mit einem gegebenen Faserorientierungsprofil antizipieren soll. Die Projektpartner sind das SKZ Das Kunststoff-Zentrum und die Firma aiXtrusion. Diese Partnerschaft bündelt langjährige Erfahrungen in den Bereichen Materialmodellierung, Materialprüfung und Training von KI-Modellen.

Das Ziel dieses Projekts ist die Entwicklung und Implementierung eines KI-basierten Algorithmus zur Kalibrierung anisotroper Materialmodelle, ohne dass dabei ein externer oder interner FE-Solver erforderlich wird. Dieser Algorithmus, einschließlich der beiden KI-Modelle, wird anschließend in unser MatScape Softwarepaket implementiert und soll den Prozess der Materialkalibrierung für den Benutzer erheblich vereinfachen (Bild 3).

KI-Modelle können mit einer Vielzahl von rheologischen Daten, einschließlich Viskosität, Scherspannung und Fließverhalten, trainiert werden, um komplexe Materialreaktionen vorherzusagen. Durch das Lernen aus Daten, die durch Experimente oder Simulationen erzeugt wurden, können trainierte KI-Modelle unter Umständen das Materialverhalten effizienter und genauer als numerische Methoden annähern. Insbesondere sollte ein KI-Modell in der Lage sein, die lokalen Faserorientierungen in einer einfachen Geometrie vorherzusagen, wenn es ausreichend trainiert wurde. Für die Füllsimulation werden die Parameter des Viskositätsmodells, die Wanddicke und die Schmelzetemperatur sowie die Einspritzgeschwindigkeit als Eingabewerte verwendet. Durch geeignete Variation dieser Parameter in Füllsimulationen wird eine ausreichende Menge an Trainingsdaten für verschiedene KI-Modelle erzeugt.

In der Strukturanalyse können KI-Modelle die Spannungsverteilung, die Verformung und die Versagensarten von Materialien und Strukturen vorhersagen. Durch Training mit Daten aus Zugversuchen und Simulationen können KI-Modelle Vorhersagen für verschiedene Belastungsszenarien erstellen. Die einachsige Reaktion einer einfachen Zugprobe, selbst mit lokal variierenden Faserorientierungen, sollte also ein realistisches Ziel für ein KI-Modell sein.

Der Prozess der Verwendung von KI für die Erstellung anisotroper Materialmodelle umfasst dabei mehrere Schritte:

  1. Sammeln von experimentellen Daten oder Simulationsergebnissen, die das Verhalten des Materials unter verschiedenen Parametereinstellungen beschreiben. Für die Vorhersage der lokalen Faserorientierung werden als Parameter die Viskosität, die Formgeometrie und ausgewählte Prozessdaten verwendet. Für die Vorhersage der Belastungs-/Verschiebungsreaktion des Zugversuchs sind die variierenden Randbedingungen die mechanischen Eigenschaften der Matrix und der Fasermaterialien sowie die aus dem ersten KI-Modell vorhergesagten Faserorientierungen.
  2. Vorverarbeitung der Daten: Bereinigung, Normalisierung und Organisation der Daten, um einen geeigneten Datensatz für das Training des KI-Modells zu erstellen.
  3. Modell-Auswahl: Auswahl einer geeigneten KI-Modellarchitektur aus neuronalen Netzen mit einer unterschiedlichen Anzahl von Neuronen und Schichten, basierend auf der Komplexität des Materialverhaltens und den verfügbaren Daten.
  4. Trainieren: Verwendung der vorverarbeiteten Daten für das Training des KI-Modells, welches die Beziehungen zwischen Materialparametern, Randbedingungen und Systemantwort erlernt.
  5. Validierung und Verfeinerung: Verbessern der Genauigkeit des trainierten KI-Modells anhand von neuen, im Training nicht verwendeten Daten oder experimentellen Ergebnissen. Iterative Detaillierung des Modells.
  6. Optimierung: Integration des KI-Modells in die Software Matscape um anisotrope Materialmodelle zu erzeugen, welche direkt für Simulationen genutzt werden können.

Die Integration von KI bei der Erstellung anisotroper Materialmodelle bringt mehrere Vorteile mit sich.

KI-Modelle können komplizierte Verhaltensweisen erfassen, die von herkömmlichen Modellen möglicherweise übersehen werden, was zu genaueren Simulationen führt. Dies gilt insbesondere dann, wenn echte CT-Daten für das Training verwendet werden, wodurch Fehler in Bezug auf die tatsächliche lokale Faserorientierung vermieden werden, wie sie in Füllsimulationen immer wieder auftreten können. Darüber hinaus reduziert KI die für die Modellentwicklung benötigte Zeit erheblich, so dass sich die Ingenieure auf andere Aspekte des Simulationsprozesses konzentrieren können. Da weder die Lizenzgebühren für zwei FE-Solver noch das erforderliche Know-How bei der Verwendung dieser Solver anfallen, wird der erforderliche Aufwand erheblich reduziert.

Wir freuen uns sehr auf die Zusammenarbeit in diesem Projekt und sind überzeugt, dass die Ergebnisse den Nutzern unserer Software unmittelbar zugutekommen werden.

Autor: Dr. Marcus Stojek ist Geschäftsführer bei der PART Engineering GmbH, Bergisch Gladbach

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