Die Bewertung der Ermüdungsfestigkeit von Kunststoffen ist schwierig. Dies liegt unter anderem an oft nicht vorhandenen zyklischen Festigkeitskennwerten. Dies wiederum ist darin begründet, dass die Ermittlung solcher Daten sehr aufwändig ist. Es müssen Wöhlerkurven erstellt werden, die sich aus Einzelmessungen für unterschiedliche Spannungsniveaus mit den jeweils zugehörigen Versagenslastspielzahlen ergeben. Zusätzlich sind Abhängigkeiten der Wöhlerkurve von Temperatur und ggf. Feuchtegehalt, bei faserverstärkten Werkstoffen auch von der Faserausrichtung (Bild 1), sowie von der Mittelspannung zu berücksichtigen. Die Berücksichtigung dieser Einflüsse, führt zu einer umfassenden Versuchsmatrix. Eine zeitliche Beschleunigung der Versuchsdurchführung ist bei Kunststoffen hinsichtlich einer maximal zulässigen Versuchsfrequenz begrenzt, da Eigenerwärmung vermieden werden sollte. Der zeitliche und finanzielle Aufwand ist erheblich. Alternative Vorgehensweisen zur Ermittlung zyklischer Festigkeitskennwerte sind somit wünschenswert. Nachfolgend wird ein Ansatz vorgestellt, der es ermöglicht eine erste Abschätzung zyklischer Festigkeiten ausgehend von oft vorhandenen statischen Festigkeitskennwerten durchzuführen. Die Vorgehensweise ist in unserer Software MatScape, unserer Material Datenbank und Software für Converse und S-Life Plastics implementiert.
Vereinfachte Vorgehensweise
Die hier vorgeschlagene vereinfachte Vorgehensweise beruht originär auf dem Vorschlag von Oberbach [2] und ist von Stommel, Stojek, Korte [3] modifiziert und umfassend erweitert worden. Das Konzept wird hier kurz skizziert (Bild 2). Ausgehend von einer bekannten statischen Festigkeit aus einem kurzzeitigen Zugversuch wird mittels eines Faktors die Wechselfestigkeit für eine Lastspielzahl von 107 („Quasi-Dauerfestigkeit“) bestimmt. Je nach vorliegender Beanspruchungssituation, d.h. inwieweit eine Mittelspannung vorliegt und ob der Nachweis für geringere Lastspielzahlen als 107 durchgeführt werden soll, sind ggf. entsprechende Korrekturfaktoren zu ermitteln. Der implementierte Ansatz bestimmt diese Faktoren dabei automatisch, es sind keine zusätzlichen Festigkeitskennwerte hierzu erforderlich. Weitere Details sind in [3] dargestellt.
Das Konzept ist formell vergleichbar zur Vorgehensweise bei metallischen Werkstoffen, wie sie in der FKM-Richtlinie [4] dargelegt ist. Im metallischen Bereich ist das Konzept der „synthetischen Wöhlerlinien“ durch Ableitung von zyklischen Festigkeitskennwerten aus statischen Kennwerten etabliert.
Validierung anhand experimenteller Daten
Eine exemplarische Überprüfung der Plausibilität der mit dem oben dargestellten Verfahren rechnerisch abgeschätzten zyklischen Festigkeiten erfolgte mit aus der Literatur entnommenen gemessenen zyklischen Festigkeiten eines mit 50 Gew. % Kurzglasfasern verstärktem PA66 [5]. Basis der rechnerischen Abschätzung aus statischen Kennwerten waren kurzzeitige Spannungs-Dehnungs-Kurven aus öffentlich zugänglichen Quellen (z.B. Campus) bzw. entsprechende Daten, die in MatScape zur Verfügung stehen (Bild 3).
Studien-Design
Als Basis für die rechnerische Abschätzung wurden kurzzeitige Spannungs-Dehnungs-Kurven eines Ultramid A3WG10 im feuchten Zustand mit Faserhauptorientierung in Prüfrichtung zu Grunde gelegt. Zwar wird in der Quelle keine explizite Angabe zum Feuchtezustand der Proben gemacht, jedoch werden statische Kennwerte (Bruchspannung, E-Modul) dargestellt, die betragsmäßig nahelegen, dass es sich um ein luftfeuchtes Material handelt. Die Validierung erfolgte für ungekerbte Prüfkörper (Kt = 1) bei Prüftemperaturen von 23°C (RT) und 130°C (experimentell). Da als Basis der Abschätzung keine statische kurzzeitige Kurve bei 130°C vorlag, wurde rechnerisch vereinfachend die Kurve bei 120°C verwendet, auf eine Interpolation wurde verzichtet. Es wurde rein schwellende (R=0) und rein wechselnde (R=-1) zyklische Belastung betrachtet. Für die wechselnde Belastung ungekerbter Prüfkörper ist in der Quelle allerdings keine vollständige Wöhlerkurve angegeben, sondern nur ein Einpunktwert bei N=106, der dann für das Spannungsverhältnis R=-1 ersatzweise betrachtet wird.
Studien-Ergebnisse
Das in MatScape implementierte Verfahren liefert automatisch, im Sinne einer Push-Button Lösung, pro Temperatur und für die Spannungsverhältnisse R=0 und R=-1, Wöhlerkurven im High Cycle Fatigue (HCF) Bereich zwischen 104 und 107 Lastspielen. Dies erfolgt für alle in der mit der Software ausgelieferten Materialdatenbank vorhandenen Kunststoffhandelstypen. Die experimentellen Wöhlerkurven in Bild 4 sind in Form von Nennspannungsamplituden zu einer Überlebenswahrscheinlichkeit von PÜ=50 % dargestellt. Der Neigungsexponent der experimentellen Kurven wurde im Gegensatz zur Quelle im Lastspielzahlbereich zwischen 104 und 107 neu berechnet, um eine Vergleichbarkeit zur rechnerischen Abschätzung zu gewährleisten.
Der Vergleich zwischen gemessenen und abgeschätzten Wöhlerkurven zeigt, dass sowohl die absolute Lage der Wöhlerlinien, der Neigungsexponent als auch die Differenzierung nach Temperatur und Spannungsverhältnis mit erstaunlich geringen Abweichungen zur Messung (Bild 5) dargestellt werden können. Unter Annahme üblicher Streumaße für zyklische Festigkeiten können die mit dem Verfahren ermittelten Kurven von 50 % Überlebenswahrscheinlichkeit auf z.B. 90 % Überlebenswahrscheinlichkeit umgerechnet werden, um eine verlässlichere Bewertungsbasis für das Bauteil zu haben.
Fazit
Die hier dargestellten Ergebnisse sind exemplarisch und erlauben keine Generalisierung der Zusammenhänge bzw. Prognosegenauigkeiten auch für andere Werkstoffe. Dennoch belegen die Ergebnisse sowie weitere praxisnahe Erfahrungen bei PART Engineering, dass das Verfahren plausible Abschätzungen von zyklischen Festigkeiten liefert. In dem Verfahren ist zurzeit noch nicht die Stützwirkung infolge lokaler Spannungsgradienten berücksichtigt. Diese kann zu einer erheblich weniger konservativen Auslegung führen, als auf Basis von reinen Nennspannungs-Wöhlerkurven.
Das Verfahren ist damit gut geeignet, um mit vergleichsweise geringem Aufwand und unter der Maßgabe, dass nur statische Kennwerte bekannt sind, eine Abschätzung der zu erwartenden Ermüdungsfestigkeit von Bauteilen durchzuführen. So können z.B. im Rahmen von Optimierungen oder Konzeptstudien (Bild 6) auf Basis einfacher FEM-Analysen mit linear-elastischem isotropen Materialmodell erste Bewertungen erfolgen. In späteren Entwicklungsphasen oder bei Annahme gravierender Schadensfolgen können nach Bedarf aufwändigere Verfahren hinzukommen, wie z.B. [1], die auch anisotrope Festigkeiten berücksichtigen.
Unter Berücksichtigung, der vergleichsweise großen Streuungen bei der experimentellen Bestimmung zyklischer Festigkeitskennwerte, bieten die abgeschätzten zyklischen Festigkeiten eine solide Arbeitsbasis zur Durchführung eines Ermüdungsfestigkeitsnachweises von Kunststoffen.
Das Verfahren ist in S-Life Plastics vollständig implementiert und bietet damit einen Easy-to-Use Ansatz zur Ermüdungsfestigkeitsbewertung von Kunststoffen, der auch von gelegentlichen Anwendern und Nicht-Werkstoffexperten beherrscht werden kann. Dies entspricht unserem Anspruch praxistaugliche Software anzubieten, die in der täglichen Arbeit schnell, robust und verlässlich Ergebnisse liefert.
[1] A. Jain, J. M. Veas, S. Straesser, W. V. Paepegem, I. Verpoest, und S. V. Lomov, „The Master SN curve approach – A hybrid multi-scale fatigue simulation of short fiber reinforced composites“, Composites Part A: Applied Science and Manufacturing, Bd. 91, S. 510–518, 2016, doi: doi.org/10.1016/j.compositesa.2015.11.038.
[2] Karl Oberbach, „Berechnung von Kunststoff-Bauteilen, Berechnungsmethoden und zulässige Werkstoffanstrengungen“, in Tagungsband Konstruieren mit Kunststoffen, 11. Konstruktions-Symposium der DECHEMA, Frankfurt/Main, 1981, Bd. 91, S. 181–196.
Ein kommentierter Nachdruck in pdf-Format ist hier kostenfrei erhältlich.
[3] M. Stommel, M. Stojek, und W. Korte, FEM zur Berechnung von Kunststoff- und Elastomerbauteilen, 2. Aufl. München: Carl Hanser Verlag, 2018. Hier erhältlich.
[4] FKM-Richtlinie: Rechnerischer Festigkeitsnachweis für Maschinenbauteile aus Stahl, Eisenguss- und Aluminiumwerkstoffen, 7. Aufl. Frankfurt a. M.: VDMA Verlag, 2020.
[5] E. Moosbrugger, J. Hartmann, und M. Weber, „Entwicklung von hochfesten und zyklisch kriechbeständigen verstärkten Thermoplasten für eine betriebsfeste Auslegung von Sicherheitskomponenten im Kraftfahrzeug“ BMBF-Rahmenprogramm: WING Werkstoffinnovation für Industrie und Gesellschaft, Förderkennzeichen: 03X3010, Robert Bosch GmbH, Waiblingen, 2010.
Autor
Dr. Wolfgang Korte ist Geschäftsführer bei der PART Engineering GmbH, Bergisch Gladbach