Werkstoff- und Bauteileigenschaften
Im September 2025 ist der Weißdruck der VDI Richtlinie 2016 zum Festigkeitsnachweis von Bauteilen aus thermoplastischen Kunststoffen erschienen. Wesentliches Ziel der Richtlinie ist die Definition einer standardisierten Vorgehensweise, die auch für unterschiedliche Anwender bei gleicher Aufgabenstellung zu gleichen Ergebnissen führt. Die beschriebenen Vorgehensweisen beziehen sich auf den veröffentlichen Stand der Technik und haben einen abschätzenden Charakter. Bestehende Lücken und Grenzen der Anwendbarkeit können dabei nicht in allen Fällen ausgeräumt werden.
Die Richtlinie geht bezüglich der lokalen (örtlichen) Beanspruchungen im Bauteil von einer vorgeschalteten, strukturmechanischen Simulation aus, die an jedem Punkt des Bauteils die entsprechenden Spannungs- bzw. Dehnungstensoren liefert.
Sie behandelt den (statischen) Festigkeitsnachweis für Bauteile aus unverstärkten und kurzfaserverstärkten thermoplastischen Kunststoffen. Eingeschlossen sind Bauteile, die in urformenden Verfahren, wie dem Spritzguß, oder aus urformend hergestellten Halbzeugen gefertigt werden. Sie ist nicht geeignet für den Nachweis der Stabilität im Sinne eines Knickens oder Beulens, für die Bewertung von Elastomeren oder Duroplasten sowie für in Sinterprozessen hergestellte Bauteile und für Schweißnähte.
In der veröffentlichten Form ist die Richtlinie in zwei Blätter aufgeteilt. Blatt 1 liefert die Grundlagen der Richtlinie, definiert den Anwendungsbereich sowie die verwendeten Konventionen und Begrifflichkeiten. Dabei werden insbesondere die verschiedenen Beanspruchungsformen einmalig, mehrmalig, kurzzeitig, langzeitig und zyklisch voneinander abgegrenzt. Die im Material wirkenden Versagensmechanismen und die zugehörigen, im Versuch ermittelten Werkstoffkennwerte werden erläutert. Weiterhin geht Blatt 1 kurz auf die berücksichtigten Einflussfaktoren bezüglich der Bauteilfestigkeit ein und benennt die verwendeten Festigkeitshypothesen.
Blatt 2 beschreibt den statischen Festigkeitsnachweis. Der Nachweis ist formal in neun Einzelschritte aufgeteilt, die in einer von drei möglichen Verfahrensweisen (A, B und C) abgearbeitet werden (siehe Bild 1).
Nach der Auswahl des geeigneten Nachweisverfahrens wird zunächst die lokale Beanspruchung ermittelt. Dazu werden in Schritt 2 die in der FE-Simulation ermittelten Spannungen oder Dehnungen in eine geeignete Vergleichsgröße umgerechnet. Die Schritte 3 bis 5 liefern den, für den verwendeten Werkstoff und die aktuellen Lastbedingungen angepassten Festigkeitskennwert, der unter Berücksichtigung der Sicherheitsfaktors die lokale Beanspruchungsgrenze bestimmt (Schritte 6 und 7). Das Verhältnis von Beanspruchungskennwert und zulässiger Beanspruchung ergibt schließlich den lokalen Auslastungsgrad. Der Nachweis gilt als erbracht, wenn der Auslastungsgrad im gesamten Bauteil kleiner oder gleich eins ist.
Umgekehrt bedeutet ein lokales Überschreiten dieser Grenze durch den Auslastungsgrad allerdings nicht zwangsläufig auch ein Bauteilversagen. Diese Frage kann nur durch einen Tragfähigkeitsnachweis (optionaler Schritt 9) erbracht werden, der allerdings in der aktuellen Version nicht Teil der Richtlinie ist.
Die Wahl des geeigneten Nachweisverfahrens (Schritt 1) richtet sich dabei im Wesentlichen nach der Verfügbarkeit der erforderlichen Materialdaten. Für Verfahren A geht die Richtlinie vom Vorhandensein beanspruchungsanaloger Werkstoffkennwerte aus. Das heißt, alle steifigkeits- und festigkeitsbezogenen Kennwerte des Materials wurden in Versuchen ermittelt, die den Einsatzbedingungen des Bauteils entsprechen. Dies betrifft insbesondere Temperatur, Zeit und Medieneinfluss. Siehe dazu auch Bild 2. Das Verfahren A ermittelt einen spannungsbezogenen Auslastungsgrad.
Im Verfahren B werden statt beanspruchungsanaloger Messewerte die Ergebnisse aus Normprüfungen (z.B. DIN ISO 527) verwendet. Der Wirkung der unterschiedlichen Einflussgrößen auf die Festigkeit wird über entsprechende Abminderungsfaktoren erfasst. Die Vorgehensweise ähnelt dem Verfahren nach Oberbach [OBE1981], unterscheidet sich jedoch in der Art und Weise, auf die die jeweils anzuwendenden Abminderungsfaktoren ermittelt werden. Anders als das Verfahren nach Oberbach ermöglicht die Richtlinie jedoch ausschließlich den Nachweis gegen statische Lasten. Es wird ein dehnungsbezogener Auslastungsgrad ermittelt.
Verfahren C schließlich verwendet nur repräsentative Auslegungsgrenzen von Werkstoffklassen, verzichtet also vollständig auf die Auswertung von Spannungs-/Dehungskurven o.ä. Das Verfahren ist für die abschätzende Bewertung eines ersten Bauteilentwurfes gedacht. Auch in Verfahren C wird ein dehnungsbezogener Auslastungsgrad berechnet.
Für die Behandlung anisotroper, kurzfaserverstärkter Kunststoffe wird in der Richtlinie generell davon ausgegangen, dass die Berechnung von Spannungen und Dehnungen in der Struktursimulation unter Verwendung eines isotropen Materialmodells erfolgt. Der Einfluss der lokalen Faserausrichtung und des Orientierungsgrades wird also in allen Verfahren pauschal berücksichtigt.
Implementierung in S-Life
Mit dem sogenannten vereinfachten Festigkeitsnachweis bietet S-Life Plastics seit vielen Jahren eine leistungsfähige Methode zur Bewertung der statischen und zyklischen Festigkeit unter kurz- und langzeitiger Last. In diesem Verfahren werden langzeitige und zyklische Beanspruchungsgrenzen anhand von statischen Kennwerten und pauschalen, werkstoffspezifischen Abminderungsfaktoren abgeschätzt. Das Verfahren ist ausführlich in [SSK2025] beschrieben und basiert auf den Arbeiten von Oberbach [OBE1981].
Mit dem Herbstrelase von S-Life stehen dem Anwender nun zusätzlich die Verfahren A und B aus der VDI 2016 zur Verfügung (Bild 3). Das in der Richtlinie beschriebene Verfahren C ist in der kommenden S-Life Version noch nicht implementiert.
Aus Gründen der Übersichtlichkeit erfolgt die Wahl des Nachweisverfahrens auf Applikationsebene, das heißt, alle isotropen Komponenten des FE-Modells werden mit dem jeweils ausgewählten Verfahren behandelt. Für Komponenten, für die die Beanspruchungen unter Verwendung von Converse mit einem anisotropen Materialmodell berechnet wurden, steht zusätzlich der bekannte umfassende, anisotrope Nachweis zur Verfügung.
Die eigentliche Durchführung des Nachweises hat sich dabei für den Anwender nur wenig verändert. Nach dem Import der Ergebnisdatei des jeweiligen FE-Solvers erfolgt die Materialzuweisung an die nachzuweisenden Komponenten sowie die Auswahl der relevanten Berechnungsinkremente. Bei Bedarf können Lasten dabei innerhalb von S-Life skaliert oder überlagert werden. Nach Angabe der Lastart (einmalig, mehrmalig, langzeitig, etc.) sind je nach gewähltem Verfahren unterschiedliche Nachweisparameter anzugeben, beispielsweise ein Bindenaht- oder Sicherheitsfaktor. Für alle geforderten Werte liefern S-Life oder MatScape dabei sinnvolle Vorgaben, die vom Anwender angepasst werden können, falls entsprechende Werte vorliegen.
Der Nachweis für das gesamte Bauteil erfolgt auf Knopfdruck, der berechnete Auslastungsgrad wird als Konturplot dargestellt. Für jeden Knoten des Modells kann auf Wunsch ein ausführlicher Nachweisbericht erstellt werden.
Letztendlich unterscheiden sich die einzelnen Nachweisverfahren im Wesentlichen nur auf der Festigkeitsseite, also in Bezug auf die ermittelten Beanspruchungsgrenzen. Die Unterschiede werden vor allem in dem Softwaremodul MatScape sichtbar, das untrennbar mit jeder S-Life Version verbunden ist.
Materialbeschreibung in MatScape
MatScape liefert sowohl die Materialkarten, die für die Struktursimulation eines Werkstoffes erforderlich sind, als auch die Beanspruchungsgrenzen, je nach Lastart und äußeren Randbedingungen. Zusätzliche Einflussfaktoren, wie Bindenahtfaktoren oder zu berücksichtigende Dehnungsreserven bei Überschreiten der Glastemperatur (Strain Shift) können ebenfalls in MatScape angegeben oder abgeschätzt werden. Mit Einführung der VDI 2016 Richtlinie ergeben sich damit vor allem bezüglich der Beanspruchungsgrenzen einige Neuerungen.
Für das etablierte PART Oberbach Verfahren stellt MatScape wie gewohnt die zulässigen Spannungen über der Einsatztemperatur dar, unterschieden je nach Lastart (Bild 4). Innerhalb der einzelnen Bereiche wird der exakte Wert der Beanspruchungsgrenze je nach Beanspruchungszustand angepasst. Die verwendeten Abminderungsfaktoren je Lastart ergeben sich dabei, wie oben erwähnt, in Abhängigkeit des Werkstofftyps (amorph, teilkristallin, faserverstärkt). Beanspruchungsgrenzen werden zunächst stets für Raumtemperatur ermittelt und dann ggf. auf andere Temperaturen übertragen.
Für das Verfahren B werden die anzuwendenden Abminderungsfaktoren nicht durch den Werkstofftyp, sondern durch die konkrete Spannungs-/Dehnungskurve (je Temperatur) festgelegt. Im doppelt normierten Spannungs-/Dehnungsdiagramm (siehe Bild 5) wird die Gestalt der Kurve und ihre Abweichung vom linear elastischen Verlauf bewertet. Die normierten Beanspruchungsgrenzen können direkt je Lastart abgelesen werden. Die Richtlinie liefert neben dem graphischen Verfahren auch eine analytische Formulierung für deren Berechnung.
Neben den normierten Werten pro Temperatur, stellt MatScape analog zum PART Oberbach Verfahren auch den Verlauf der Beanspruchungsgrenzen über der Temperatur dar (Bild 6).
Im Verfahren A werden keinerlei Abminderungsfaktoren bezüglich Temperatur oder Zeit verwendet, da die zugrundeliegenden Spannungs-/Dehnungskurven beanspruchungsanalog sein müssen. Die an den Messkurven abgelesenen Versagenskennwerte (Bruch- oder Streckspannung) entsprechen direkt den im Bauteil zu erwartenden Festigkeiten. Insbesondere für langzeitige Belastung (Kriechen) wird im Verfahren A die zeitabhängige Beanspruchungsgrenze allerdings nicht aus Kurzeitdaten abgeschätzt, sondern an einer bereitzustellenden Zeitstandkurve abgelesen. Entsprechende Daten können in MatScape eingegeben werden (Bild 7).
Literatur:
[OBE81] Karl Oberbach, „Nachdruck: Berechnung von Kunststoff.Bauteilen, Berechnungsmethoden und zulässige Werkstoffanstrengungen“. DE. In: Tagungsband Konstruieren mit Kunststoffen, 11. Konstruktions-Symposium der DECHEMA. Vol 91. Frankfurt/Main, 1981, pp181-196. URL: https://www.partengineering.com/de/benutzerbereich/dokumente/artikel.
[SSK25] Markus Stommel, Marcus Stojek, Wolfgang Korte. FEM für die Berechnung von Kunststoffbauteilen, 3. Auflage, Carl Hanser Verlag, München, 2025. Hier erhältlich
Autor: Dr. Marcus Stojek ist Geschäftsführer bei der PART Engineering GmbH, Bergisch Gladbach






