In diesem Artikel wird anhand des Anwendungsbeispiels eines mehrpoligen Steckers (Multipoint Connector, Bild 1) der Firma Robert Bosch vorgestellt, wie mit angemessenem Aufwand und durch Verwendung von „Bordmitteln“ ein kurzfaserverstärktes Bauteil mittels FEM simuliert werden kann.
Es werden einfache Vorgehensweisen auf Basis von isotropen Standard-Werkstoffkennwerten und Abminderungsfaktoren vorgestellt (Bild 2, oben). Zur Bewertung der Ergebnisse werden Bauteiltests sowie die mittels einer aufwändigeren anisotropen integrativen Simulation (Bild 2, unten) erhaltenen Ergebnisse diskutiert. Der Beitrag ist zweigeteilt. In Teil I wird auf die Bauteilsteifigkeit fokussiert und in Teil II auf die Bauteilfestigkeit. Teil II wird in einem nachfolgenden Blog-Artikel veröffentlicht.
Alle Modelle sind falsch, aber manche sind nützlich
Diese Überschrift ist ein Zitat des britischen Statistikers George E. P. Box und beschreibt ganz gut die Situation, wenn es um die numerische Simulation technischer Kunststoffbauteile geht. Vielfach sind solche Bauteile kurzfaserverstärkt. Dies führt in der Praxis regelmäßig zu der Frage, wie solche Bauteile zu berechnen sind. Es ist nicht unbedingt zielführend, das technisch Machbare anzustreben, sondern das, was zweckmäßig ist. Das bedeutet, dass Ergebnisunsicherheiten in Kauf genommen werden können, wenn die Simulation die gestellte Frage mit ausreichender Genauigkeit beantwortet. Es gilt das Pareto-Prinzip.
Was nun unter zweckmäßig zu verstehen ist, hängt u.a. davon ab, in welcher Produktentwicklungsphase man sich befindet (Bild 3). In frühen Phasen (Konzeption) reicht es vielfach aus mit einfachen Mitteln eine abschätzende Analyse durchzuführen, z.B. im Rahmen von Machbarkeitsstudien oder Gestaltoptimierungen. Vielfach ist es in frühen Phasen ohnehin so, dass viele Randbedingungen für genauere Analyse noch nicht fixiert sind, z.B. Anspritzpunkte oder Werkstoff. Auch werden Machbarkeitsstudien häufig nicht von einer Simulations-Fachabteilung, sondern konstruktionsbegleitend von einer produktverantwortlichen Gruppe durchgeführt. Komplexere Analyse sind dort meist nicht durchführbar.
Befindet sich hingegen das Produkt vor der Freigabe sind zur Absicherung des Werkzeugbaus und der späteren Anwendung genauere Analyse gefordert. Diese werden dann ggf. durch eine Simulations-Fachabteilung gemacht. Aufwändigere Modellierungsansätze sind in diesem Falle gerechtfertigt.
Multipoint Connector unter Flächenlast
Die oben beschriebene vereinfachte Vorgehensweise wird anhand eines hypothetischen Lastfalls für den Multipoint Connector beschrieben, um die Bauteilsteifigkeit zu ermitteln. Das Bauteil, das der geforderten Design-Last in der Anwendung problemlos standhält, wurde hierzu absichtlich bis zum Bruch belastet wurde, um eine Validierung der verschiedenen Simulationsansätze zu ermöglichen. Das Bauteil wird im Spritzgießverfahren hergestellt und besteht aus einem Polyamid 6.6 mit einem Fasergewichtsanteil von 30%. Mit zwei außen liegenden Lagerstellen und einer durch einen Stempel aufgebrachten Flächenlast ist der Testaufbau ähnlich einem 3-Punkt Biegeversuch (Bild 4).
Faserverstärkte Werkstoffe sind „Bauteile“
Bei kurzfaserverstärkten Kunststoffen kann man, ebenso wie bei den lang- und endlosfaserverstärkten Werkstoffen, im eigentlichen Sinne nicht von Werkstoffeigenschaften sprechen. Vielmehr handelt es sich um Bauteileigenschaften, da der „Werkstoff“ erst während der Herstellung des Bauteils entsteht. Charakteristisch für faserverstärkte Werkstoffe ist der Schichtaufbau. Während dieser bei den endlosfaserverstärkten Werkstoffen bewusst in das Bauteil hinein konstruiert wird, entsteht er bei spritzgegossenen kurzfaserverstärkten Werkstoffen infolge der Strömungsvorgänge bei der Werkzeugfüllung. Die über der Bauteildicke überlagerten mechanischen Eigenschaften der „Einzelschichten“ entsprechen dann den Werkstoff- bzw. Bauteileigenschaften an dieser Stelle.
Vereinfachte isotrope Analyse mit reduziertem E-Modul
Aus obigem Zusammenhang und auch aus der Praxis ist bekannt, dass in Bezug auf eine Bauteilgrundsteifigkeit, die Verwendung eines in Fließrichtung der Schmelze gemessenen E-Moduls, z.B. aus einer Datenbank, für eine vereinfachte isotrope FEM-Analyse zu hohe Bauteilsteifigkeiten liefert (Bild 5, gelbe Kurve). In der Praxis verwendet man aus diesem Grund oft einen empirischen Abminderungsfaktor für den E-Modul, mit dem der nominale E-Modul aus dem Datenblatt auf ca. 65-70% abgemindert wird. Es hat sich gezeigt, dass damit für typische technische Bauteile (Glasfasergewichtsanteil 20-50 %, Wanddicken 3-4 mm, meist biegedominierte Last) die Bauteilgrundsteifigkeit in vielen Fällen gut abgebildet werden kann. Dies gilt allerdings ausschließlich für die Steifigkeit, nicht für die Festigkeit und nur für Bauteile, die keine ausgewiesene Faservorzugsrichtung in Lastrichtung zeigen.
In Bild 5 sind zusätzlich die Kraft-Verformungs-Kurven für die Abminderungsfaktoren 70% (0,7) und 50% (0,5) dargestellt. Mit einem Abminderungsfaktor von 0,7 liegt man schon deutlich näher am Test-Ergebnis, ist allerdings immer noch zu steif. Wohingegen der Abminderungsfaktor 0,5 zu einer etwas zu geringen Bauteilsteifigkeit führt. Mit einem Abminderungsfaktor von 0,55 hätte man die gemessene Kurve genau getroffen. Diese Aussage ist insofern müßig, als dass in der Regel die Kraft-Verformungs-Kurve nicht bekannt ist, diese soll ja ermittelt werden. Somit besteht also keine Möglichkeit, einen Abminderungsfaktor a priori so zu bestimmen, dass eine genaue Übereinstimmung mit der realen Bauteilsteifigkeit erzielt wird.
Short Fiber Calculator: Hilfreiches Tool für einfache Analysen
Allerdings kann der Bereich plausibler Abminderungsfaktoren für ein bestimmtes Material abgeschätzt werden. Hierzu kann der Short Fiber Calculator innerhalb von MatScape genutzt werden. MatScape ist das Materialmodellierung-Modul innerhalb Converse und S-Life Plastics. Dieses Tool, ermöglicht eine schnelle Analyse der Auswirkung unterschiedlicher Faserorientierungsverteilungen auf die anisotropen mechanischen Kennwerte (Bild 6). In der Übersichtstabelle sind die neun Steifigkeitskennwerte des anisotropen Werkstoffs sowie die drei Wärmeausdehnungskoeffizienten zu sehen. Diese werden über das interne Multiskalenmodell jeweils für unterschiedliche Werte des Orientierungstensors berechnet. Die Werte des Orientierungstensors können als Eigen- bzw. Hauptwerte (a1|a2|a3) links frei eingegeben werden (Bild 6, rot gestrichelt). Von besonderer Bedeutung ist hier die sogenannte „effektive Orientierung“. Hierunter ist diejenige konstante, über der Wanddicke etwa eines Prüfstabs gemittelte Orientierung zu verstehen, die zu identischen Steifigkeiten (Zug-E-Moduln) führt wie die tatsächliche inhomogene Verteilung der Faserorientierung. Man kann die effektive Orientierung so einstellen, dass der Wert von E11 (E-Modul in Richtung der Faserachse) dem in Versuchen gemessenen oder aus einer Datenbank entnommenen E-Modul in Fließrichtung in etwa entspricht (E11 = E0, Bild 6, rot=grün). Dann ist diese gefundene Orientierung ein guter Schätzwert für den Orientierungszustand in der Probe, ohne dass hierzu eine CT-Messung oder eine Spritzgießsimulation durchgeführt werden muss. Oder andersrum, ist der Orientierungstensor aus einer Messung oder Spritzgießsimulation bekannt, so können direkt für diese Position im Bauteil die anisotropen mechanischen Kennwerte bestimmt werden. Beide Vorgehensweisen können im Rahmen von Plausibilitätschecks in einfacher Weise nützlich sein.
Im Short Fiber Calculator sind für bestimmte ausgezeichnete Orientierungszustände spaltenweise die zugehörigen mechanischen Kennwerte dargestellt. Dies ist der vollorientierte Zustand (100|0|0) als Extremalzustand, wenn alle Fasern exakt in einer Richtung liegen, was bei spritzgegossenen kurzfaserverstärkten Bauteilen faktisch niemals auftritt. Sowie die Zustände der maximal regellosen Verteilung in der Ebene (50|50|0) und im Raum (33|33|33). Der Random 2D Zustand entspricht einer Quasi-Isotropie in der Ebene und der 3D Zustand analog im Raum, mit identischen Kennwerten in alle Richtungen. In einem komplexen spritzgegossenen Bauteil können im statistischen Mittel die Fasern näherungsweise über Random 2D bzw. 3D Verteilungen beschrieben.
Die im Short Fiber Calculator ermittelten Steifigkeiten für den Random 2D und Random 3D Zustand können nun verwendet werden, um damit einen plausiblen Bereich des steifigkeitsbezogenen Abminderungsfaktors zu bestimmen. In Bild 6 (hellblau) zeigt sich für den Random 2D Zustand beispielweise ein E-Modul E11 = 4312 MPa und für den Random 3D Zustand E11 = 2993 MPa Bild 6 (dunkelblau). Aus einer Datenbank wird ein Zug-E-Modul E0 = 6210 MPa entnommen (Bild 6, grün). Setzt man nun jeweils die Random-Werte ins Verhältnis zum Zug-E-Modul E0, so ergibt sich im Beispiel hier ein Bereich für den Abminderungsfaktor von ca. 0,7 bis 0,5 (siehe Bild 5). Diese Vorgehensweise liefert oft Werte mit einer erstaunlich guten Übereinstimmung mit den bereits erwähnten in der Praxis bekannten empirischen Abminderungsfaktor. Obschon nun mit dem in dieser Art und Weise ermittelten Bereich der Abminderungsfaktoren weiterhin eine Unsicherheit besteht, so ist die Wahl des Abminderungsfaktors doch zumindest damit etwas mehr abgesichert als einfach den bekannten Wert von z.B. 0,65 zu verwenden, welcher übrigens innerhalb des abgeschätzten Bereichs liegt.
Hat man sich nun auf einen Abminderungsfaktor innerhalb des abgeschätzten Bereichs festgelegt, kann damit nicht nur der E-Modul (isotrope linear-elastische Analyse), sondern auch die gesamte Spannungs-Dehnungs-Kurve in Spannungsrichtung skaliert werden (isotrope elastisch-plastische Analyse). Auch dies kann in MatScape über einen Stress Scaling Factor bei der Definition von isotropen Materialkarten durchgeführt werden (Bild 7).
Abschließend, kann die Materialkarten mit der skalierten Kurve direkt in jeweiliger Solver-Syntax exportiert werden. Für erste abschätzenden Analysen ist dies eine einfache Möglichkeit mit isotropen Materialmodellen zu arbeiten, um vergleichende Analysen durchzuführen, ohne dass bereits eine Faserverteilung vorliegt.
There is no free lunch
Ist jedoch eine sichere Aussage erforderlich, so bleibt letztlich keine andere Wahl, als eine anisotrope Analyse durchzuführen. Die Ergebnisse einer solche Analyse sind ebenfalls in Bild 5 dargestellt. In Bild 8 sind die Bauteilgrundsteifigkeiten ausgewertet. Mit der anisotropen Analyse wird die Bauteilgrundsteifigkeit in guter Übereinstimmung mit dem Testergebnis ermittelt. Ebenso wird auch der Versagenspunkt gut getroffen, wie in Teil II in einem späteren Blog-Artikel noch genauer gezeigt wird. Die isotropen Analysen mit Abminderungsfaktor sind nur eine grobe Abschätzung in Bezug auf eine Bauteilgrundsteifigkeit, eine Festigkeitsbewertung auf Basis einer solchen skalierten Kurve sollte nicht durchgeführt werden. Hierzu existieren andere vereinfachte Vorgehensweisen, die ebenfalls in Teil II des Artikels besprochen werden.
Fazit
Mit Hilfe des in Converse und S-Life Plastics integrierten Materialmodellierungs-Moduls MatScape lassen sich auf einfache Weise die in diesem Artikel beschriebenen vereinfachten isotropen als auch komplexere anisotropen Analysen durchführen. So können z.B. im Rahmen von Optimierungen oder Konzeptstudien auf Basis einfacher FEM-Analysen mit isotropen Materialmodell erste Bewertungen erfolgen.
Damit bietet die Software einen Easy-to-Use Ansatz zur Simulation von kurzfaserverstärkten Kunststoffbauteilen. Converse und S-Life Plastics können entweder direkt über PART Engineering oder auch über die Altair Partner Alliance bezogen werden.
Autoren: Dr. Wolfgang Korte und Sascha Pazour, PART Engineering GmbH, Bergisch Gladbach
Co-Autorinnen: Marta Kuczynska und Natalja Schafet, Robert Bosch GmbH, Stuttgart