Dieser Artikel ist der zweite Teil eines Beitrags zum Anwendungsbeispiel eines mehrpoligen Steckers (Multipoint Connector, Bild 1) der Firma Robert Bosch. Es wird dargestellt, wie mit angemessenem Aufwand und durch Verwendung von „Bordmitteln“ ein kurzfaserverstärktes Bauteil mittels FEM simuliert werden kann.
Im ersten Teil wurde beschrieben wie, die Bauteilsteifigkeit auch ohne Berücksichtigung der Anisotropie vereinfachend ermittelt werden kann. Im zweiten Teil wird nun erläutert, wie eine Festigkeitsbewertung erfolgen kann. Es wird wiederum eine Vorgehensweise auf Basis von isotropen Standard-Werkstoffkennwerten und Abminderungsfaktoren vorgestellt (Bild 2, oben). Zur Bewertung der Ergebnisse werden Bauteiltests sowie die mittels einer aufwändigeren anisotropen integrativen Simulation (Bild 2, unten) erhaltenen Ergebnisse diskutiert.
Globale und lokale Bauteileigenschaften
Anders als die Bauteilsteifigkeit, die eine globale Eigenschaft ist, ist die Bauteilfestigkeit eine lokale Eigenschaft. Was bedeutet dies? Globale Eigenschaften sind integral und ergeben sich aus der Betrachtung des gesamten Bauteils oder eines größeren Bauteilbereichs. So ist z.B. die Bauteilmasse eine globale Eigenschaft, die sich aus Bauteilvolumen und Materialdichte ergibt. Analog verhält es sich bei der Bauteilsteifigkeit, diese ergibt sich bei einem kurzfaserverstärkten Kunststoffbauteil aus der Ausrichtung der Fasern und der Hauptbeanspruchungsrichtung innerhalb des betrachteten Bauteilbereichs sowie der Werkstoffsteifigkeit. In Bezug auf die Faserausrichtung kommt es dann auf die statistische Verteilung an und nicht auf die Ausrichtung einer einzelnen oder einiger weniger Fasern. Ganz anders ist dies bei der Festigkeit. Das Versagen des Bauteils wird unter der Annahme eines eher spröden Verhaltens (Versagen durch Trennbruch), wie man es bei kurzfaserverstärkten Werkstoffen meist erwarten kann, durch die Stelle im Bauteil bestimmt, an der die Bruchgrenze des Werkstoffs überschritten wird. Das Versagen ist also lokal, vergleichbar zu einer Kette, bei der die gesamte Festigkeit der Kette durch die Festigkeit jedes einzelnen Kettenglieds bestimmt wird.
Nominale Kennwerte aus Datenbanken überschätzen die Festigkeit
Die in Datenbanken abgelegten Werkstoffkennwerte sind in der Regel an spritzgegossenen längs angespritzten Zugstäben ermittelt. Damit sind die Kennwerte in Richtung der Hauptfaserausrichtung ermittelt, dies sind diejenigen mit höchster Steifigkeit und Festigkeit. Im Bauteil sind nun jedoch nicht wie im Zugstab die meisten Fasern in Richtung der Hauptbeanspruchungsrichtung ausgerichtet, sondern weichen unter einem Winkel davon ab. In Bild 3 sind beispielhaft Steifigkeit und Festigkeit für aus Platten entnommene Zugstäbe parallel und senkrecht zur Hauptfaserrichtung dargestellt. Die Unterschiede sind erheblich.
Mikromechanische Vorgänge sind entscheidend
Die festigkeitsbestimmenden Vorgänge auf mikromechanischer Ebene sind in Bild 4 dargestellt. In Faserrichtung können Herausziehen der Fasern aus der Matrix oder Faserbruch auftreten, quer zur Faserrichtung Ablösen der Fasern von der Matrix, Matrixbruch oder allgemein Mischformen dieser Phänomene. Die deutlich reduzierte Festigkeit eines kurzfaserverstärkten Werkstoffs quer zur Faserrichtung ist damit verständlich, da die Festigkeit hier limitiert ist durch die Festigkeit des Matrixwerkstoffs oder die Haftfestigkeit der Faser an der Matrix. Eine Verstärkungswirkung durch die Faser findet hier nicht statt.
Neben der Anisotropie treten infolge der Faserfüllung weitere Effekte auf, die festigkeitsreduzierend sind. In Bild 5 ist für einen mikroskopischen Ausschnitt aus einem kurzfaserverstärkten Werkstoff (ein sogenanntes repräsentatives Volumenelement RVE) die Spannungsverteilung in Fasern und Matrix dargestellt. Durch den Faservolumenanteil kommt es zu einer Verformungsbehinderung des ungefüllten Werkstoffs. Dies führt zu Spannungsspitzen vornehmlich an den Faserenden sowie Spannungsüberhöhungen in den Matrixbereichen zwischen den Fasern, wie in Bild 5 zu sehen ist. Die kann dazu führen, dass die Festigkeit des verstärkten Werkstoffs quer zur Hauptfaserausrichtung sogar niedriger ist als die Festigkeit des reinen Matrixwerkstoffes.
Keep it simple but not too simple
Obige Phänomene sind alle lokaler Art und können in der Simulation nur durch aufwändigere Multiskalensimulationen aufgelöst werden und werden im Folgenden nur als Referenz zur Bewertung einfacherer Vorgehensweisen herangezogen. In Teil 1 des Beitrags wurde bereits eine einfache Vorgehensweise zur Ermittlung der Bauteilsteifigkeit mit Hilfe eines Reduktionsfaktors für die Steifigkeit vorgestellt. Insbesondere wurde mit einem Reduktionsfaktor von 0,55 bezogen auf den Ursprungsmodul die gemessene Bauteilsteifigkeit auf Basis einer isotropen Analyse gut getroffen (Bild 6, violette Kurve). Man könnte nun im ersten Ansatz annehmen, dass mit der so abgeminderten Spannungs-Dehnungs-Kurve auch die Bauteilfestigkeit ebenso gut ermittelt werden kann. Dies ist jedoch nicht der Fall. Setzt man als Bewertungskriterium zur Erreichung der Festigkeitsgrenze die ebenfalls mit 0,55 abgeminderte Bruchspannung des Werkstoffs an, so ergibt sich eine deutlich (69 %) zu geringe Versagenskraft (Bild 6, violetter Punkt). Würde man die isotrope FEM-Simulation mit der nicht abgeminderten Spannungs-Dehnungs-Kurve durchführen (Bild 6, gelbe Kurve), ergäbe sich eine deutlich zu hohe (120 %) Versagenskraft des Bauteils (Bild 6, gelber Punkt).
Eine andere Vorgehensweise wird von Oberbach [1] vorgeschlagen. Hier wird mit der nicht abgeminderten nominellen Spannungs-Dehnungs-Kurve eine isotrope Analyse durchgeführt und dann die Festigkeit je nach Lastart (einmalig, mehrmalig, langzeitig, wechselnd) und Werkstofftyp (teilkristallin unverstärkt, amorph unverstärkt, faserverstärkt) gemäß des in Bild 7 dargestellten Diagramms in Spannungsrichtung abgemindert zur Bewertung der aus der FEM erhaltenen Beanspruchungen. Die Spannungs-Dehnungs-Kurve als solche wird nicht abgemindert. Das Verfahren beinhaltet noch weitere Varianten. Es ist im Detail in [1] dargestellt. In [2] wurde das Verfahren u.a. dahingehend erweitert, dass zur Festlegung des Zahlenwerts des Abminderungsfaktors der lokale Beanspruchungszustand (Mehraxialitätsgrad) berücksichtigt wird.
Das Ergebnis einer Analyse des Bauteils mit dem Verfahren gemäß [2] ist ebenfalls in Bild 6 (blauer Punkt auf gelber Kurve) dargestellt. Zwar wird immer noch die Versagenskraft etwas unterschätzt (93 %), diese liegt allerdings schon näher an dem tatsächlichen Wert. Das Verfahren ist einfach und sein Einsatz ist insbesondere in frühen Produktentwicklungsphasen sinnvoll, in denen es häufig noch um Machbarkeitsanalysen geht. Ebenso stehen in frühen Phasen oft die erforderlichen Faserorientierungen aus einer Spritzgießsimulation für eine komplexere anisotrope Simulation noch nicht zur Verfügung. Die korrekte Versagenskraft (als auch Bauteilsteifigkeit, siehe Teil 1) ist allerdings nur mit einer solchen anisotropen Analyse ermittelbar (Bild 6, grüner Punkt). In Bild 8 sind zusammenfassend die mit den beschriebenen Vorgehensweisen erhaltenen Ergebnisse in normierter Form quantitativ dargestellt.
Fazit
Mit Hilfe des in Converse und S-Life Plastics integrierten Materialmodellierungs-Moduls MatScape lassen sich auf einfache Weise die in diesem Artikel beschriebenen vereinfachten isotropen als auch komplexere anisotropen Analysen durchführen. So können z.B. im Rahmen von Optimierungen oder Konzeptstudien auf Basis einfacher FEM-Analysen mit isotropen Materialmodell erste Bewertungen erfolgen. Neben einem Konturplot des Auslastungsgrads liefert S-Life Plastics für jeden FE-Knoten auch einen umfassenden Nachweisbericht mit den wesentlichen Berechnungsgrößen (Bild 9).
Ebenso können für genauere Analysen mit Hilfe von MatScape anisotrope Materialkarten generiert werden Bild 10, um eine integrative Simulation mit Berücksichtigung der Faserorientierungen durchzuführen.
Damit bietet die Software einen Easy-to-Use Ansatz zur Simulation von kurzfaserverstärkten Kunststoffbauteilen, der den unterschiedlichen Erfordernissen in Bezug auf Aufwand und Nutzen in den verschiedenen Produktentwicklungsphasen gerecht wird. Converse und S-Life Plastics können entweder direkt über PART Engineering oder auch über die Altair Partner Alliance bezogen werden.
[1] Karl Oberbach, „Nachdruck: Berechnung von Kunststoff-Bauteilen, Berechnungsmethoden und zulässige Werkstoffanstrengungen“, in Tagungsband Konstruieren mit Kunststoffen, 11. Konstruktions-Symposium der DECHEMA, Frankfurt/Main, 1981, S. 181–196. [Online]. Verfügbar hier
[2] M. Stommel, M. Stojek, und W. Korte, FEM zur Berechnung von Kunststoff- und Elastomerbauteilen, 2. Aufl. München: Carl Hanser Verlag, 2018.
Autoren: Dr. Wolfgang Korte und Sascha Pazour, PART Engineering GmbH, Bergisch Gladbach
Co-Autorinnen: Marta Kuczynska und Natalja Schafet, Robert Bosch GmbH, Stuttgart