Festigkeit und Tragfähigkeit in der FKM-Richtlinie – Eine Klarstellung

Erstellt von Dr. Wolfgang Korte | | Technischer Artikel

Oft werden Bauteile zu konservativ ausgelegt. Erfahren Sie in unserem Blog-Artikel, wie Sie mit Hilfe der FKM-Richtlinie Traglastreserven ausschöpfen und zu einer wirtschaftlicheren Konstruktion gelangen.

Die FKM-Richtlinie [1] ist der de-facto Standard für die Festigkeitsbewertung metallischer Bauteile im allgemeinen Maschinenbau. Seit nahezu drei Jahrzehnten wird die Richtlinie erfolgreich industriell eingesetzt. Mit einem Umfang von ca. 230 Seiten wird der statische und zyklische Festigkeitsnachweis metallischer Bauteile umfassend und strukturiert dargelegt. Teilweise ist allerdings zu hören, dass die Richtlinie Bauteile zu konservativ bewerte. Dieser Beitrag stellt dar, dass diese Wahrnehmung in der Regel darauf zurückzuführen ist, dass die Möglichkeiten die die Richtlinie bietet, nicht angewendet werden. Insbesondere erlaubt die Richtlinie die Ausnutzung plastischer Tragreserven bei duktilen Werkstoffen im statischen Nachweis. Die richtlinienkonforme Vorgehensweise zur Ausnutzung solcher Reserven wird erklärt. Die Darstellung erfolgt für nichtgeschweißte Bauteile und örtliche Spannungen, wie sie aus einer FEM-Analyse erhalten werden.

Stützzahlenkonfusion - Eine Begriffsklärung

In der FKM-Richtlinie ist von zwei unterschiedlichen Stützzahlen die Rede: die plastische Stützzahl npl im statischen Nachweis (Kapitel 3) und die Stützzahl nσ bzw. nτ im Ermüdungsfestigkeitsnachweis (Kapitel 4). Statische und zyklische Stützzahlen verwenden zwar ähnliche Terminologie bezeichnen jedoch technisch unterschiedliche Phänomene und sind somit strikt getrennt zu betrachten. Das Thema in diesem Beitrag ist ausschließlich die plastische Stützzahl npl im statischen Nachweis. Die plastische Stützzahl ist definiert als:

(1)

Die plastische Stützzahl geht linear in die statische Bauteilfestigkeit σSK ein:

(2)

Die Stützzahl kann minimal den Wert Eins annehmen (eine Werkstoffverfestigung nicht berücksichtigt). Dies entspricht keiner Stützwirkung, also keine Ausschöpfung plastischer Reserven des Werkstoffs und damit Auslegung gegen die Fließgrenze Rp. Auf der anderen Seite kann die plastische Stützzahl je nach Werkstoff, Bauteilgeometrie und Lastsituation Werte »1 annehmen. Sie kann damit die statische Bauteilfestigkeit in erheblichem Ausmaß erhöhen. Soviel schon einmal vorweg: Der erste Term von Gl. (1) bewertet die Plastifizierfähigkeit des Werkstoffs selber, der zweite Term inwieweit ein kritischer Bauteilquerschnitt unter der gegebenen Lastsituation nach Überschreiten der Fließgrenze noch Tragfähigkeit besitzt. Zunächst betrachten wir im folgenden Abschnitt den zweiten Term von Gl.  (1).

Plastischer Kollaps - Etwas Plastizitätstheorie

Als Gedankenexperiment wird ein Bauteil mit einem Biegemoment belastet (Bild 1). In einem ersten Schritt erfolgt die Belastung exakt so, dass an der Bauteiloberfläche an der Position höchster Biegenormalspannung die Fließgrenze Rp des Werkstoffes erreicht wird (blau). In einem zweiten Schritt wird dann das Biegemoment weiter erhöht, so dass die Fließgrenze des Werkstoffs an der Bauteiloberfläche überschritten wird (rot).

In der Realität stellen wir nun bei einem duktilen Werkstoff fest, dass das Bauteil nicht etwa bei dem Biegemoment versagt, bei dem auf der Bauteiloberfläche die Fließgrenze erreicht wird, wie man es vielleicht erwarten würde, sondern bei einem höheren Biegemoment. Was ist der Grund dafür? Hierzu betrachten wir den Spannungsverlauf genauer: Im Bereich der Bauteiloberfläche liegen hohe Spannungen oberhalb der Fließgrenze vor, im Bauteilinneren existieren allerdings große Bereiche in denen die Spannung unterhalb der Fließgrenze liegt. Dies bedeutet, dass nur vergleichsweise kleine Teilbereiche des betrachteten Querschnittes plastifizieren, nämlich nur jene im Bereich der Bauteiloberfläche. Der Rest des Querschnitts ist weiterhin rein elastisch beansprucht. Dieses rein elastisch beanspruchte Material stützt in diesem Sinne den bereits plastifizierten Querschnittsbereich. Hieraus leitet sich auch der Begriff Stützzahl ab. Eine solche Stützwirkung setzt voraus, dass erstens der Werkstoff duktil ist und zweitens ein Spannungsgefälle ins Bauteilinnere senkrecht zur Bauteiloberfläche vorliegt.

Quantitativ wird die Stützwirkung über die sogenannte plastische Formzahl Kp in Gl. (1) erfasst, Kp ist wie folgt definiert:

(3)

Auf das Beispiel in Bild 1 bezogen, ist dann die vollplastische Traglast dasjenige Biegemoment, das dazu führt, dass der Bauteilquerschnitt gerade vollständig plastifiziert ist. D.h. an allen Positionen im Querschnitt wird die Fließgrenze erreicht. Die elastische Grenzlast ist dasjenige Biegemoment, das dazu führt, dass an der Bauteiloberfläche gerade die Fließgrenze erreicht wird. Das Verhältnis der beiden Lastgrößen ist die plastische Formzahl Kp. Anschaulich gibt Kp also den Faktor an, um den die Last gegenüber dem erstmaligen Erreichen der Fließgrenze weiter erhöht werden kann, bis der Querschnitt vollständig plastifiziert ist (Bild 1).

Die so ermittelte vollplastische Traglast ist gemäß der Plastizitätstheorie eine untere Schranke der Tragfähigkeit. Ein plastischer Kollaps des Bauteils tritt bei Erreichen der unteren Grenze nicht ein. Die untere Traglastgrenze wird über den sogenannten statischen Traglastsatz definiert, die obere Grenze hingegen über den kinematischen Traglastsatz. Die kritische Traglast befindet sich zwischen diesen beiden Grenzen [2],[3].

Nach der FKM-Richtlinie ist es also unter der Voraussetzung eines ausreichend duktilen Materials und dem Vorliegen eines Spannungsgefälles senkrecht ins Bauteilinnere hinein zulässig, das Bauteil so hoch zu belasten, bis ein kritischer Querschnitt vollständig plastifiziert ist. Dies ist ein weitgehendes Zugeständnis im Hinblick auf eine wirtschaftliche Gestaltung des Bauteils mit möglichst geringem Materialeinsatz. Dennoch ist dies ein sicheres Auslegungskriterium, da es sich, wie oben dargestellt, um eine untere konservative Traglastgrenze handelt.

Diese Traglastreserven können allerdings nur in Ansatz gebracht werden, wenn die plastische Formzahl auch angemessen ermittelt wird. Oft ist dies nicht der Fall, Kp wird nicht berücksichtigt und zu Eins gesetzt. In diesem Fall wird statisch äußerst konservativ gegen die Fließgrenze Rp des Werkstoffs ausgelegt, wie die Minimumbildung in Gl. (1) in Verbindung mit Gl. (2) zeigt, denn der erste Term in Gl. (1) ist immer > 1. Der Verfestigungsfaktor fR wurde nicht betrachtet. Er berücksichtigt eine eventuelle Verfestigung des Werkstoffs bei hohen Dehnungen, welches eine zusätzliche Auslegungsreserve darstellt. Hierauf wird an dieser Stelle nicht weiter eingegangen.

Es sei noch darauf hingewiesen, dass die plastische Formzahl Kp nicht mit der elastischen Formzahl Kt zu verwechseln ist. Die elastische Formzahl gibt das Verhältnis von maximaler Spannung zu Nennspannung in einem gekerbten Querschnitt an, was etwas anderes ist als das Lastverhältnis bei der plastischen Formzahl. Die plastische Formzahl ist lastbezogen (nicht spannungsbezogen!) definiert. Nun betrachten wir im folgenden Abschnitt den zweiten Term in Gl.  (1).

Werkstoffzähigkeit hängt vom Spannungszustand ab

Im Alltagsverständnis besitzt ein Werkstoff, abhängig von der Temperatur, eine bestimmte intrinsische Zähigkeit. Diese Zähigkeit kann beispielsweise ausgedrückt werden über eine ertragbare Dehnung εertr. Empirisch bekannt ist jedoch, dass die Verformungsfähigkeit eines Werkstoffes keine Werkstoffkontante ist, sondern vom jeweiligen Spannungszustand abhängt. Je größer die hydrostatischen Spannungen, desto weniger deformationsfähig ist der Werkstoff. Dieser Zusammenhang wird in der FKM-Richtlinie dadurch erfasst, dass die ertragbare Dehnung im ersten Term in Gl. (1) in Abhängigkeit von der Größe h, dem Mehraxialitätsgrad definiert wird (4):

(4)

Der Mehraxialitätsgrad ist das Verhältnis von hydrostatischer Spannung zu deviatorischer Spannung (von Mises Spannung). Der Zusammenhang in Gl. (4) besagt, dass die ertragbare Dehnung mit zunehmender Mehraxialität abnimmt. Insbesondere in scharfen Kerben treten hohe Mehraxialitätsgrade auf. Dies führt dazu, dass eigentlich duktile Werkstoffe in scharfen Kerben meist spröde versagen. Man spricht bei diesem Phänomen auch von Spannungsversprödung. Damit ist die ertragbare Dehnung des Werkstoffes ein lokales Kriterium, das an jeder Position im Bauteil (FE-Knoten) einen anderen Wert annimmt, da sich der Spannungszustand ändert.

Eine weitere Funktion des ersten Terms in Gl. (1) ist die Berücksichtigung des realen elastisch-plastischen Werkstoffverhaltens. Dies erfolgt hier über eine Neuber-Korrektur der linear-elastisch ermittelten Spannungen. Dies ist der Grund für die Quadratwurzel (Neuber-Hyperbel) im ersten Term. Auf diesen Aspekt wird an dieser Stelle jedoch nicht weiter eingegangen.

Und jetzt alles zusammen – Das Doppelkriterium

Über die Minimumbildung in Gl. (1) erfolgt ein Doppelnachweis. Je nachdem welcher der beiden Terme kleiner ist, ist entweder eine lokale werkstoffliche Festigkeitsgrenze (Term 1) oder eine globale Traglastgrenze (Term 2) maßgeblich für die lokale statische Bauteilfestigkeit. Die kritischere Situation entscheidet. Das Festigkeits- bzw. Dehnungskriterium in Term 1 bezieht sich also auf das lokale Überschreiten der Deformationsfähigkeit des Werkstoffes, wohingegen das globale Traglastkriterium in Term 2 den instabilen plastischen Kollaps eines Querschnitts limitiert. Der Zusammenhang ist in Bild 2 visualisiert.

Das untere Diagramm zeigt eine auf die Fließgrenze normierte Werkstoffkurve (spannungsbezogen). Das obere Diagramm ist eine sogenannte Bauteilfließkurve (lastbezogen), normiert auf die elastische Grenzlast, dem Nenner in Gl. (3). Es werden zwei Werkstoffe unterschiedlicher Zähigkeit, ausgedrückt über die ertragbare Dehnung εertr, betrachtet. Die Bauteilfestigkeit wird bei Werkstoff 1 mit der geringeren ertragbaren Dehnung über das Dehnungskriterium (Term 1) limitiert. Hier wird die ertragbare Dehnung im Kerbgrund überschritten. Beim Werkstoff 2, mit höherer ertragbarer Dehnung, wird hingegen die Bauteilfestigkeit über die Tragfähigkeit des betrachteten Querschnitts limitiert (Term 2). Der Werkstoff als solcher hätte hier durchaus noch plastisches Verformungspotenzial aufgewiesen.

Mit dem Konzept der lokalen Bauteilfestigkeit löst sich die FKM-Richtlinie also von dem Verständnis einer intrinsischen konstanten Festigkeit pro Werkstoff. Vielmehr ist die Bauteilfestigkeit im Sinne der plastischen Stützzahl der FKM-Richtlinie entweder als Dehnungsgrenze des Werkstoffs oder als Traglastgrenze des Bauteils zu verstehen. Die Ermittlung kann über den Formalismus der Richtlinie automatisch pro Position im Bauteil (FE-Knoten) erfolgen. Eine praktisch handhabbare Anwendung des Konzepts erfordert allerdings eine automatisierte softwarebasierte Vorgehensweise, wie sie in S-Life FKM implementiert ist. Das Doppelkriterium Gl. (1) inkl. der Berechnung der spannungsabhängigen ertragbaren Dehnung erfolgt automatisiert pro Oberflächenknoten des FE-Modells und die resultierenden lokalen, statischen Auslastungsgrade werden als Konturplot angezeigt (Bild 3). Ein umfassender numerischer Report des Nachweises erlaubt die Detailanalyse kritischer Knoten und die Identifikation, welcher der beiden Kriterien maßgebend war.

There is no free lunch

Einerseits besitzt das Konzept der plastischen Stützzahl über das Doppelkriterium eine gewisse Eleganz. Andererseits wird die praktische Anwendung dadurch erschwert, dass es im Allgemeinen keine einfache algorithmische Vorgehensweise zur Ermittlung der plastischen Formzahl Kp im zweiten Term der Gl. (1) gibt. Gemäß FKM-Richtlinie ist die plastische Formzahl über eine nichtlineare FEM-Analyse mit elastisch-idealplastischem Materialmodell zu ermitteln. Hierüber kann dann die Bauteilfließkurve (lastbezogen) ermittelt werden, aus der dann die Traglastgrenze abgelesen werden kann. In Bild 4 ist dies beispielhaft für einen Lasthaken dargestellt.

Zum einen erfordert eine nichtlineare FEM-Analyse numerischen Aufwand. Zum anderen können bei der Vollplastifizierung kompletter Querschnitte, wie es bei der Ermittlung der vollplastischen Traglast per definitionem der Fall ist, Konvergenzprobleme während der Simulation auftreten. Auch steht nicht jedem ein FEM-Programm mit der Möglichkeit nichtlineare Werkstoffmodelle zu verwenden zur Verfügung. Für Sonderfälle, wenn die Bezugsquerschnitte als Nennquerschnitte und die Last weitestgehend als eine der Grundbeanspruchungsarten definiert werden kann, lässt sich die plastische Formzahl nach Maßgabe der Richtlinie konservativ abschätzen [1, Kapitel 3.3.1.1].

In Ermangelung einer befriedigenden Lösung für die einfache Ermittlung der plastischen Formzahl ist nun in S-Life FKM (Release 2023) eine verbesserte Vorgehensweise implementiert. Dies ermöglicht eine automatische Abschätzung der plastischen Formzahl Kp und damit auch der plastischen Stützzahl npl insgesamt für jeden Oberflächenknoten des FEM-Modells (Bild 5).

Fazit

Die FKM-Richtlinie bietet im statischen Nachweis für duktile Werkstoffe weitgehende Möglichkeiten zur Ausschöpfung plastischer Werkstoff- und Traglastreserven. Voraussetzung hierfür ist allerdings die Ermittlung der vollplastischen Traglast. Dies ist in den meisten Fällen nur über eine mit Aufwand verbundene nichtlineare FEM-Analyse möglich. Mit S-Life FKM kann bereits jetzt eine vereinfachte Abschätzung der plastischen Stützzahl automatisiert durchgeführt werden. Eine verbesserte Vorgehensweise wird in S-Life-FKM in 2023 zur Verfügung stehen.

Mit Hilfe von S-Life FKM wird die Verarbeitung von aus FEM-Analysen erhaltenen örtlichen Spannungen im Hinblick auf statische Festigkeit und Ermüdungsfestigkeit, nach Maßgabe der FKM-Richtlinie, nahezu auf Knopfdruck durchgeführt. S-Life FKM benötigt Spannungen aus einer Strukturanalyse. Zu verschiedenen FEM-Programmen existieren Schnittstellen. Als Ergebnis werden u.a. die statischen und zyklischen Auslastungsgrade des Bauteils nach FKM-Richtlinie als Konturplot dargestellt.

Literatur

[1] Rechnerischer Festigkeitsnachweis für Maschinenbauteile, FKM-Richtlinie, 7. Auflage, Forschungskuratorium Maschinenbau, VDMA Verlag, Frankfurt am Main, Germany, 2020
[2] L. Issler, H. Ruoß, und P. Häfele, Festigkeitslehre - Grundlagen, 2., korr. Nachdruck 2006 Aufl. Berlin Heidelberg New York: Springer-Verlag, 1997.
[3] „Plastic limit theorems“. Wikipedia, 9. Februar 2023. Zugegriffen: 9. Februar 2023. [Online]. Verfügbar unter: https://en.wikipedia.org/wiki/Plastic_limit_theorems
[4] B. Hänel u. a., „Verbessertes Berechnungskonzept FKM-Richtlinien“, Forschungskuratorium Maschinenbau e.V., Frankfurt a. M., Abschlussbericht FKM-Vorhaben Nr. 282 Heft 306, 2010.

Autor
Dr. Wolfgang Korte ist Geschäftsführer bei der PART Engineering GmbH, Bergisch Gladbach

Zurück